Die Brück' am Tay (1880) - Theodor Fontane

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Theodor Fontane When shall we three meet again?
(Shakespeare: Macbeth)

1. »Wann treffen wir drei wieder zusamm'?«
2. »Um die siebente Stund', am Brückendamm.«
3. »Am Mittelpfeiler.«
4. »Ich lösch die Flamm'.«
5. »Ich mit.«
6. »Ich komme vom Norden her.«
7. »Und ich vom Süden.«
8. »Und ich vom Meer.«
9. »Hei, das gibt ein Ringelreihn,
10. und die Brücke muß in den Grund hinein.«
11. »Und der Zug, der in die Brücke tritt
12. um die siebente Stund'?«
13. »Ei, der muß mit.«
14. »Muß mit.«
15. »Tand, Tand
16. ist das Gebild von Menschenhand.«

17. Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
18. alle Fenster sehen nach Süden aus,
19. und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
20. und in Bangen sehen nach Süden zu,
21. sehen und warten, ob nicht ein Licht
22. übers Wasser hin »ich komme" spricht,
23. »ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
24. ich, der Edinburger Zug.«

25. Und der Brückner jetzt: »Ich seh einen Schein
26. am andern Ufer. Das muß er sein.
27. Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
28. unser Johnie kommt und will seinen Baum,
29. und was noch am Baume von Lichtern ist,
30. zünd alles an wie zum heiligen Christ,
31. der will heuer zweimal mit uns sein, -
32. und in elf Minuten ist er herein.«

33. Und es war der Zug. Am Süderturm
34. keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
35. und Johnie spricht: »Die Brücke noch!
36. Aber was tut es, wir zwingen es doch.
37. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
38. die bleiben Sieger in solchem Kampf,
39. und wie's auch rast und ringt und rennt,
40. wir kriegen es unter: das Element.

41. Und unser Stolz ist unsre Brück';
42. ich lache, denk ich an früher zurück,
43. an all den Jammer und all die Not
44. mit dem elend alten Schifferboot;
45. wie manche liebe Christfestnacht
46. hab ich im Fährhaus zugebracht
47. und sah unsrer Fenster lichten Schein
48. und zählte und konnte nicht drüben sein.«

49. Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
50. alle Fenster sehen nach Süden aus,
51. und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
52. und in Bangen sehen nach Süden zu;
53. denn wütender wurde der Winde Spiel,
54. und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
55. erglüht es in niederschießender Pracht
56. überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

57. »Wann treffen wir drei wieder zusamm'?«
58. »Um Mitternacht, am Bergeskamm.«
59. »Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.«
60. »Ich komme.«
61. »Ich mit.«
62. »Ich nenn euch die Zahl.«
63. »Und ich die Namen.«
64. »Und ich die Qual.«
65. »Hei!
66. Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.«
67. »Tand, Tand
68. ist das Gebilde von Menschenhand«

Gedichtprofil

Allgemein
Name: Die Brück' am Tay
Autor: Theodor Fontane
Veröffentlicht: 1880
Epoche: Realismus
Art: Ballade

Formal
Verse: 68
Strophen: 7
Metrum: unregelmäßig
Reimschema: aabacdedffghggii (Strophe 1), aabbcc (Strophe 2-6), aaabcdedffgg (Strophe 7)
Reimart: Paarreim (Strophe 2-6)
Kadenz: unregelmäßig

Sprachlich/Stilistisch
Wortfelder: /
Adjektive: bang, heilig, fest, elend, wütend
Tempus: Präsens und Präteritum
Stilmittel: Personifikation (V.18, 21-24, 34, 50), Alliteration (V.19, 37, 39, 41, 51), Litotes (V. 21), Enjambement (V.19-20, 25-26, 33-34, 43-44, 55-56), Vergleich (V.30, 66), Inversion (V.53)

Erzähler
Lyrisches Ich: Nein
Perspektive: Personal und Auktorial
Haltung: neutral

Analyse und Interpretation


In der Ballade "Die Brück' am Tay" von Theodor Fontane 1880 veröffentlicht, geht es um drei Hexen, die eine Eisenbahnkatastrophe mutwillig verschulden. Die Ballade reflektiert ein historisches Ereignis und übt Kritik am technischen Fortschritt der Menschen, weshalb das Werk der Epoche des Realismus zuzuordnen ist.

Historischer Hintergrund:
Fontane verfasste die Ballade nach einer Reise durch Schottland und reagierte damit auf das Unglück am Fluss Tay.
Die Brücke am Tay wurde 1877 als unmittelbare Verbindung zwischen Dundee und Edinburgh fertiggestellt. Sechs Jahre dauerte der Bau der drei Kilometer langen Brücke, die zugleich Vorreiter für den weltweiten Brückenbau war.
Als am 28. Dezember 1879 ein Zug die Brücke unter starkem Wind passierte, stürzte die Brücke ein. Dabei kamen alle Passagiere in den Fluten der schottischen Nordsee ums Leben.

Inhalt und Aufbau:
Die Ballade teilt sich in sieben Abschnitte auf und berichtet/erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven über die Katastrophe. Dabei spielen neben den drei Hexen, die die Brücke zum Einsturz bringen, auch der Lokführer Johnie und der Brückner, ein Angehöriger von Johnie, eine Rolle.
Auffallend ist der Aufbau der Ballade, die mit einem Dialog der drei Hexen anfängt und endet. Im ersten Abschnitt (V.1-16) planen sie den Anschlag auf die Brücke ("Und die Brücke muss in den Grund hinein") und nehmen dabei den Tod der Passagiere in Kauf. ("Und der Zug, der in die Brücke tritt. Um die siebente Stund'?" "Ei, der muss mit").
Daraufhin wird in der Ballade ein Zeitsprung, sowie ein Erzählperspektivenwechsel deutlich. Ersteres lässt sich mit der Nichtanwesenheit der Hexen an der Brücke bei ihrem Gespräch begründen (V. 1-2 "Wann treffen wir drei wieder zusamm?"; "Um die siebente Stund', am Brückendamm.").
In auktorialer Perspektive befindet sich der Leser hieraufhin abrupt auf der Nordseite des Flusses, in einem Brückenhaus. Von dort aus beobachten die "Brücknersleut" (V.19) nervös den Zug, der sich in den Versen 22-24 sprechend ankündigt ("Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug. Ich, der Edinburger Zug.").
In der folgenden Strophe (V.25-32) sieht der Brückner dann den Zug von Süden (wird erst in der darauffolgenden Strophe belegt, V.33 "Am Süderturm") her kommen und spricht offenbar mit sich selbst über die Ankunft des Lokführers Johnie, der zu seiner Familie gehört. Der Beweis findet sich in Vers 27., in dem er seine Mutter in einem Selbstgespräch anredet.
Der darauffolgenden Abschnitte (V.33-40) und (V.41-48) wechseln in die Perspektive von Johnie, der ebenfalls sehnsüchtig (V. 35 "Die Brücke noch!") auf ein Treffen mit seiner Familie, so kurz nach Weihnachten (Das Unglück geschah am 28. Dezember), wartet. In der zweiten Strophe aus der Sicht von Johnie (V.41-48) erinnert er sich an vergangene Tage, als die Brücke noch nicht existierte und eine Schiffüberfahrt wegen schlechten Wetter häufig nicht möglich war (V. 44-46 Mit dem elend alten Schifferboot; Wie manche liebe Christfestnacht . Hab' ich im Fährhaus zugebracht.").
Die beiden letzten Strophe (V.49-56) und (V.57-68) bilden den direkten Gegenpart zu den beiden Strophen am Anfang der Ballade. Auch hier findet erneut ein Wechsel der Erzählperspektive statt. Während die sechste Strophe (V:49-56) auktorial über das Zusammenstürzen der Brücke erzählt, unterhalten sich die drei Hexen in der letzten und damit siebten Strophe (V. 57-68) über ein baldiges Treffen (V. 57 "Wann treffen wir drei wieder zusamm?") und sind stolz auf ihr Werk, die Brücke zerstört zu haben ("Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.").

Interpretation:
Fontane greift mit seiner Ballade die Brückenkatastrophe vom Tay kritisch auf und behilft sich dabei den Hexen als "Sündenbock" bzw. als kausalen Grund für dieses Unglück. Schon in der Urfassung begann "Die Brück' am Tay" mit dem Zusatz "When shall we three meet again?", dessen Aussage definitiv als Bezug zu Shakespeares Tragödie "Macbeth" gesehen werden kann. So sind die Hexen nicht als Sündenböcke zu sehen, sondern als Symbol für die Naturgewalten und ihrer schier grenzenlosen Macht und Willkür (vergleichbar mit der Zauberei von Hexen).
Verschwörerisch beschließen die Hexen in ihrem Dialog, die Brücke wieder in ihren "Grund hinein" (V.10) zu befördern und verfluchen die menschlichen Bauwerke mit ihrem Spruch "Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand". Hier lässt sich eine Parallele zur Meinung des Autors und zum historischen Kontext ziehen. Fontane selbst stand der Industrialisierung, sowie der zunehmenden Baukunst äußerst kritisch gegenüber und fühlte sich durch dieses Ereignis im gewissem Maße bestätigt. Die Kritik an Vereinnahmung (Bau von immer mehr Städten) und Vernachlässigung (Umweltverschmutzung) der Natur, die mittelbar zu Naturkatastrophen führt, hielt sich auch noch weit nach dem Realismus.
Die Kritik der technischen Überheblichkeit wird vor allem in dem personifizierten Zug deutlich, der in Strophe zwei spricht: "Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug. Ich der Edinburger Zug." Ganz im Gegensatz zu den "Brücknersleut" (V.19) die mit "Bangen" auf den Zug warten und sich der Gefahr anscheinend bewusst sind. Übertragen könnte dies bedeuten, dass zwar das einfache Volk sich den Gefahren der Technik oder der besonderen Baukunst (siehe die Brücke am Tay) bewusst war, die eigentlichen Erfinder allerdings etwaige Risiken, durch die Natur, nicht ausreichend abwägten.
Der "Tand" (Synonyme: Firlefanz, Schnickschnack, Krempel) drückt nur noch mehr die Vergänglichkeit von Menschlichen Bauwerken aus und unterstreicht die Kräfte der Natur, alles zerstören zu können, was der Mensch jemals geschaffen hat.
Typisch für die Epoche des Realismus waren neben Gesellschaftlichen Themen auch die Reflektion von historischen Ereignissen (wie die Katastrophe am Tay), die in einem wertneutralen Ton widergegeben wurden.
Des Weiteren fällt die Sonderbare Form der Ballade auf, die mit einem Prolog der Hexen beginnt und mit einem Epilog auch wieder endet. Der Dialog scheint jedoch nicht in die Form hineinzupassen, da die Strophen 2-6 einem Gedicht deutlich näher kommen. Erklären lässt sich dies mit der Form der Ballade, die Elemente der drei Literarischen Gattungen vereinigt. Zum einem das dramatische Element, dass sich in den beiden Konversationen der Hexen wiederfindet. Zum anderen das lyrische Element, die Tatsache, dass Reime am Versende existieren und eine gewisse Form, hier in diesem Gedicht die 8er Versblöcke, eingehalten wurde. Letztlich lässt sich das epische Element im Zusammenhang der Ballade erkennen, weil eine Geschichte erzählt wird.
Streng genommen ist es also kein reines Gedicht, sondern eine Ballade mit lyrischen "Bestandteilen".
Um abzuschließen lässt sich noch erwähnen, dass Fontane nicht der einzige war, der literarisch über die Katastrophe am Tay berichtete. Neben ihm versuchten sich auch William Topaz McGonagall und Max Eyth am Eisenbahnunglück, was den Erfolg der Ballade von Fontane jedoch keinesfalls schmälerte.

Weiterführende Links
Biographie: Theodor Fontane
Der Realismus