Tränen des Vaterlandes (1636) - Andreas Gryphius

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1. Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!
2. Der frechen Völcker Schar, die rasende Posaun
Andreas Gryphius 3. Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun
4. Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrath auffgezehret.

5. Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret.
6. Das Rathhauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun,
7. Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
8. Ist Feuer, Pest, und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.

9. Hir durch die Schantz und Stadt rinnt allzeit frisches Blutt.
10. Dreymal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flutt,
11. Von Leichen fast verstopfft, sich langsam fort gedrungen,

12. Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
13. Was grimmer denn die Pest und Glutt und Hungersnoth,
14. Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

Gedichtprofil

Allgemein
Name: Tränen des Vaterlandes
Autor: Andreas Gryphius
Veröffentlicht: 1636
Epoche: Barock
Art: Antikriegsgedicht

Formal
Verse: 14
Strophen: 4
Metrum: sechshebiger Jambus
Reimschema: abba, abba, ccd, eed
Reimart: Umarmender Reim
Kadenz: männlich und weiblich

Sprachlich/Stilistisch
Wortfelder: Krieg, Tod
Adjektive: frech, rasend, fett, donnernd, geschändet, frisch, verstopft
Tempus: Präsens
Stilmittel: Personifikation (Überschrift), Exclamatio (V.1), Inversion (V.1, 14), Metapher (V.2, 10), Enjambement (V. 3-4, 7-8, 10-11, 13-14) Trikolon (V.4, 8), Oxymoron (V.7), Allusion (V.10), Alliteration (V.10, 14), Hyperbel (V.11), Vergleich (V. 13)

Erzähler
Lyrisches Ich: Ja
Perspektive: auktorial
Haltung: kritisch

Analyse und Interpretation

Eingesendet von -Stefan Koch-

Viele Jahre des Barocks wurden vor allem vom 30-jährigen Krieg (1618-1648) geprägt. Um diesen Schrecken zu verarbeiten, schrieben viele Dichter - so auch Gryphius in seinem Sonett "Tränen des Vaterlandes Anno 1636" - ihre Erlebnisse nieder. Gryphius zeigt, wie düster die Zeit damals war und wie wenig Hoffnung es gab.
Es stellt sich die Frage, inwiefern sowohl Form als auch Inhalt typisch für den Barock sind. Bereits beim ersten Lesen fallen dem Rezipienten die vielen Beispiele der Auswirkungen des Krieges ins Auge. Es ist außerdem schnell zu erkennen, dass Gryphius in seinem Gedicht ausschließlich über das negative seiner Zeit berichtet.

Gryphius hat für sein Sonett den Alexandriner gewählt und das damals gängige Reimschema abba-abba-ccd-eed verwendet. Die Verse 1, 4, 5, 8, 11, 14 (allesamt weibliche Kadenzen) weisen im Gegensatz zu den restlichen Versen (allesamt männliche Kadenzen) dreizehn Silben auf.
Zu Beginn des Gedichtes berichtet das lyrische Ich von der Situation im Land und führt das Thema Krieg ein. Nach einer langen Reihe von Beispielen (V.5-7) für die Art der Konflikte sowie deren Auswirkungen auf die Psyche des Menschen und den Zustand in den Städten, wird die lange Dauer des Krieges angesprochen, die an jedem einzelnen Menschen zehrt. (V.8).
Im letzten Terzett wird das bereits düstere Gedicht als noch harmlos, gegenüber der wirklichen Situation im Krieg und seinen absehbaren Folgen, dargestellt.

Besonders auffällig ist bereits der Titel des Sonetts: "Tränen des Vaterlandes Anno 1636". Es ist daraus direkt ersichtlich, dass der Autor dieses Gedicht inmitten des 30-jährigen Krieges verfasste. Unter dem Wort "Vaterland", was stellvertretend für das gesamte Volk steht, werden alle Bürger eines Staates vereint. Die "Tränen" deuten auf die Leiden (Feuer, Pest und Hungersnot V.8) hin, denen das Volk hilflos ausgesetzt ist. Gryphius schreibt beabsichtigt nicht "meines Vaterlandes", um zu verdeutlichen, dass jedes Volk Trauer über den Krieg empfindet (Anmerkung: Im 30-jährigen Krieg waren mehrere Nation vertreten. Darunter Österreich, Spanien, Frankreich, Niederlande und Schweden).
Woher diese Trauer kommt, zeigt sich bereits im ersten Vers: Die Bewohner des Vaterlandes sind "gantz, ja mehr denn gantz verheeret". Doch nicht nur ganz, sondern sogar mehr als ganz. Diese doppelte Betonung verstärkt die ausweglose Situation, in der sich die Betroffenen befinden. In den Versen 2 und 3 werden Beispiele dafür genannt, wie der Begriff "verheeret" gemeint ist. Dabei personifiziert Gryphius die Kriegswerkzeuge: Die fremden Soldaten ziehen mit "rasenden Posaun(en)" (V.2) und "donnernde(n) Carthaun" (V.3) ein (Carthaun = militärische Geschütze). Die klingenden Adjektive (Stichwort: Onomatopoesie) sind weitere Indizien für die hoffnungslose Situation des Volkes. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Krieg hinzugeben und ihn über sich ergehen zu lassen.
Aus der Sicht des Lesers übertrieben, wirken auch die Darstellungen der "vom Blutt fett(en)" Schwerter. Durch diese Personifikation legt Gryphius eine besondere Akzentuierung auf die Kriegsmaschinen. Alle guten Dinge des Vaterlandes wurden durch die Waffen zerstört. So werden "Schweiß und Fleiß und Vorrath aufgezehret" (V.4) und die Dinge die von den Menschen einst mühsam errichtet wurden, haben ihren Wert bedingt durch die Zerstörung verloren.. Hierbei wird nebenbei klar, dass der Krieg vor allem Hungersnöte mit sich brachte.

Im zweiten Quartett werden weitere Auswirkungen aufgezählt. Da dies in aufbauender Form geschieht, wird der Rezipient dazu getrieben, immer weiter zu lesen und sich immer mehr in die Situation des lyrischen Ich's hinein zu versetzen. Auffällig ist in diesem Klimax, der sich durch das gesamte Gedicht zieht, vor allem die Wortfolge "die Kirch ist umgekehret " in Vers 5, weil man mit Kirche normalerweise etwas belehrendes assoziiert. In Zeiten des Barocks als Religion noch einen ganz anderen Stellenwert hatte als in der heutigen Zeit, muss es für den religiösen Teil der Bevölkerung unerträglich gewesen sein, Kirchen als Militärstützpunkte o.Ä. sehen zu müssen. So bewirkt alles eher befremdlich, weil die Kirchen durch das Militär zweckentfremdet wurden.
Das Rathaus hingegen - als politisches Machtzentrum - "ligt im Grauß" (V.6). Hierin liegt auch der Einfluss des Vanitas (lat. Für Vergänglichkeit) Gedanken verborgen. Dieses Schicksal traf ebenfalls "die Starcken" (V.6), d.h. diejenigen, die versuchten, das Gebiet zu verteidigen. Die Jungfrauen hingegen mussten einen seelischen Tod sterben, denn sie wurden "geschänd't" (V.7) und haben somit - wenn auch unschuldig - einen wichtigen Grundsatz der damaligen Religionsansicht gebrochen.
Den moralischen Tod führt Gryphius im letzten Vers des zweiten Quartetts weiter aus, indem er die drei Ursachen für Zerstörung noch einmal aufgreift und die Folgen erläutert ("Hertz und Geist durchfähret" V.8).

Dass sich das lyrische Ich mitten im Krieg befindet, zeigt sich in den Versen 9 und 10. Es "rinnt allzeit frisches Blutt" symbolisiert die lange Dauer des Krieges. Blut wird vergossen und rinnt. Das sich dieser Prozess wie in einem Kreislauf immer wieder wiederholt zeigt sich im Wort "allzeit" (V.9). Im zehnten Vers wird erstmals eine zeitliches Längemaß von 18 Jahren angegeben ( Dreymal sind schon sechs Jahr"). Betrachtet man die Wortfolge jedoch genauer, wird eine Allegorie erkennbar, sprich: es soll etwas anderes ausgedrückt werden. Drei mal die sechs stellt also die Zahl des Antichristen dar und ist offensichtlich eine Allusion an die Offenbarung des Johannes, besser bekannt als Apokalypse. Aus Sicht von Gryphius bringt dieser Krieg also nicht nur Tod sondern auch ein baldiges Weltende.

Im letzten Terzett spricht das lyrische Ich von noch wesentlich schlimmeren Erlebnissen als die zuvor genannten. Dies mag zuerst merkwürdig klingen, wird aber einleuchtend, wenn man weiß, dass im Barock der Gedanken des "memento mori" (Gedenke zu sterben) allseits präsent war.
In Vers 13 wiederholt das lyrische Ich die zuvor erwähnten Probleme: "Rest, Glutt und Hungersnoth". Besonders auffällig ist hierbei die Personifikation durch das Wort "grimmer", dass diese drei Probleme vermenschlicht. Die Zahl hat wie schon im zweiten Quartett Symbolcharakter und ist als allegorische Anspielung zu verstehen. Die Drei steht im Christentum für die Dreifaltigkeit (Gott, Jesus Christus und der heilige Geist) und steht antithetisch zur Katastrophe.

Das vierzehnzeilige Gedicht endet mit der Aussage über den "Seelen Schatz". Diese ist das wichtigste Gut für einen Menschen im Barock und hat wie auch in den Strophen zuvor einen religiösen Hintergrund. Denn um nach christlicher Vorstellung nach dem Tod in den Himmel zu gelangen, ist eine unversehrte Seele unabdingbar.

Das ganze Sonett behandelt das Thema 30-jähriger Krieg, welches für barocke Gedichte sehr typisch ist. Gryphius vernachlässigt zwar die Forderung Martin Opitz', Wörter nicht abzukürzen ("geschänd't (V.7)), hält sich jedoch an die anderen, signifikanteren Vorgaben: Darunter z.B. die Verwendung des Alexandriner mit einem 6-hebigen Jambus als Versmaß und die Einhaltung der Mittelzäsur. Zusätzlich spricht die Verwendung des lateinischen Begriffes "anno" im Titel eindeutig für den Barock, in der Latein erneut zu einer beliebten Sprache wurde. Somit lässt sich das Sonett "Tränen des Vaterlandes" eindeutig als ein Gedicht der Epoche des Barock (1600-1720) klassifizieren und einordnen.

Weiterführende Links
Biographie: Andreas Gryphius
Der Barock
Es ist alles eitel - Andreas Gryphius