Städter - Alfred Wolfenstein

Home   Lyrik   Städter

1. Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
2. Fenster beieinander, drängend fassen
3. Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
4. Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

5. Ineinander dicht hineingehakt
6. Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
7. Leute, ihre nahen Blicke baden
8. Ineinander, ohne Scheu befragt.

9. Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
10. Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
11. Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ...

12. Und wie still in dick verschlossner Höhle
13. Ganz unangerührt und ungeschaut
14. Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Gedichtprofil

Allgemein
Name: Städter
Autor: Alfred Wolfenstein
Veröffentlicht: 1914
Epoche: Expressionismus
Gattung: Stadtlyrik

Formal
Verse: 14
Strophen: 4
Metrum: fünfhebiger Trochäus
Reimschema: abba, cddc, efg, gef
Reimart: umarmender Reim
Kadenz: männlich und weiblich

Sprachlich/Stilistisch
Wortfelder: Stadt
Adjektive: dicht, geschwollen, dünn, still
Tempus: Präsens
Stilmittel: Enjambement (V.1-14), Vergleich (V.1,9,12), Alliteration (V.4,13,14), Depersonifikation (V.6), Metapher (V.7)

Erzähler
Lyrisches Ich: Ja
Perspektive: Auktorial
Haltung: traurig

Analyse und Interpretation


Das expressionistische Gedicht "Städter" von Alfred Wolfenstein 1914 veröffentlicht, handelt über die Einsamkeit der Stadtmenschen.

Nach meinem ersten Leseverständnis möchte Alfred Wolfenstein mit seinem Gedicht ausdrücken, wie sich die Gesellschaft, trotz des engen Miteinanders, anonymisiert hat. Das Leben findet nicht mehr in der Gemeinschaft, sondern isoliert in den Gedanken statt.

In der ersten Strophe wird die triste und enge Stadt beschrieben. Die Häuser stehen dicht aneinander, sodass sich die Menschen gedrängt auf den schmalen Straßen aufhalten.

Die zweite Strophe handelt über die Situation in den Straßenbahnen. Man sitzt dort hilflos und ist den neugierigen Blicken der Mitfahrer machtlos ausgeliefert.
Dass man auch in seinem Haus nicht privat ist, macht die dritte Strophe deutlich. Nachbarn hören alles und nehmen am nicht öffentlichen Leben eines jeden Teil.
Das zweite Terzett macht unverkennbar, wie allein man trotz dieser übertriebenen Nähe eigentlich ist.

Das typische Sonett besteht aus zwei Quartetten (Vier Verse), sowie zwei Terzetten (Drei Verse). Insgesamt sind also 14 Verse vorhanden. In den Quartetten liegt ein umarmender Reim im Schema abba vor. Die beiden Terzette weisen eine verbundene Reimstruktur auf ( abc, cab). Summa sumarum lautet das Reimschema demzufolge abba, cddc, efg, gef. Darüber hinaus ist das Metrum ein fünfhebiger Trochäus und die Kadenzen sind unregelmäßig.

Die erste Strophe beginnt prompt mit einem schmälernden Vergleich, um die Enge in der Stadt zu demonstrieren. Das Sieb (V.1) wirkt in seinem Vergleich derart, als würden die Häuser in einem großen Terrain dicht beieinander stehen, in dem die Natur und alles andere überflüssig ist. Pragmatisch bedrückend sind auch die Fenster (V.2), die verzweifelt versuchen ihren Platz in der langen Kette und riesigen Vielfalt an Facetten zu finden. Übertragen lässt sich die Beschreibung von Wolfenstein auf den Mensch, zur Zeit des Expressionismus. Die zahlreichen Individuen hatten es sichtlich schwer, einen Platz in dieser wandelnden Gesellschaft zu finden. Zusammenfassend war die Stadt ein Ort, in der viele unterschiedliche Persönlichkeiten miteinander lebten und auskommen mussten. Der Anblick der Straße leidet offensichtlich unter den vielen Häusern, die die Straße zu einem Fremdkörper machen und sich widerwillig in das Gesamtbild der verkommenen Häuser einfügen müssen (V.4).
In der zweiten Strophe wird nicht mehr auf den Lebensraum des Städters eingegangen, sondern die Anonymität mittels eines alltäglichen Beispiels aus der Bahn verdeutlicht. Die damaligen Trams (Straßenbahnen) waren derart konstruiert, dass man seinem Gegenüber starr und unbeweglich gegenübersaß. Das Gedicht stellt dementsprechend zwei Personen dar, die sich in der Straßenbahn gegenüber sitzen. Die Gesichtsausdrücke werden depersonifiziert und als banale Fassaden (V.6) beschrieben, die die Einzigartigkeit des Menschen verkennen lassen. Kritisch betrachtet versucht (nach Wolfenstein) der Mensch seine Gefühle hinter einer "mainstream" Front zu verstecken, um die Individualität im Kopf weiterhin zu bewahren. So sitzen beide Personen gefangen (V.5) ihrem Schicksal gegenüber und schauen in ihr Spiegelbild, dass ihnen die traurige Realität der Einsamkeit aufzeigt. Durch ihre Unbeweglichkeit (Körperlich durch die engen Sitze und Gedanklich durch ihr Massendenken) kommt es nur zu versuchten Blicken (V.7), die nur einen schwachen nonverbalen Kommunikationscharakter haben.
Die zweite Strophe fällt besonders durch ihre internierende Wortwahl auf. Beide Personen sind sich körperlich zwar nah (Ineinander (V.5,8) ; hineingehackt (V.5)), geistlich aber fern.

Das erste Terzett lässt sich dann mit Rückbezug auf die Quartette synthetisch deuten. Bezogen auf das erste Quartett bedeutet der Vergleich (V.9 "Unsere Wände sind so dünn wie Haut") wie räumlich nah man seinen Nachbarn ist. Ein jeder nimmt zwar Kenntnis von der Traurigkeit seiner Mitmenschen (V.10), jedoch keinen Anteil daran. Das Bild eines egoistischen expressionistischen Bürgers sticht heraus, der seine Nachbarn (Mitmenschen) wahrnimmt, ihnen aber keinerlei Beachtung schenkt.

Das zweite Terzett macht aber auch deutlich, dass die Menschen nicht vieles gegen die Lethargie ihres Umfeldes tun, sondern noch dazu beitragen (V.12). Der dreizehnte Vers verstärkt die Hypothesen aus dem zweiten Terzett. Ein jeder nimmt Teil (V.10), lässt den Nachbarn aber unangerührt und ungeschaut (V.13).
Fast schon in Selbstmitleid verfallen, wirkt die Pointe von Wolfenstein die den gesamten Inhalt und die Intention des Gedichtes zusammenfasst. (V.14)

Untersucht man das Gedicht hinsichtlich der verwendet Wortfelder so überwiegen die Elemente der Stadt (Fenster, Häuser, Straße, Trams, Fassade, Wände). In Verbindung mit den einseitigen Adjektiven, (2x ineinander, dicht, beieinander, hineingehackt, geschwollen) die fast ausnahmslos ein beengtes Gefühl beschreiben, wirkt die Stadt bedrohlich und agoraphobisch.

Betrachtet man die verwendeten Stilmittel von Wolfenstein, fallen die besonders häufigen Vergleiche (V.1 "Dicht wie die Löcher eines Siebes stehen" ; "Unsere Wände sind so dünn wie Haut" ; "Und wie in still in dich verschlossener Höhle) und Alliteration (V.4 "Grau geschwollen wie Gewürgte" ; V.13 "unangerührt und unangeschaut" ; V.14 "fern und fühlt") in den Fokus. Typisch für den Expressionismus sind diese zahlreichen Verwendungen allemal, mit denen Wolfenstein die Stadt noch enger und drohender veranschaulicht. Darüber hinaus gibt die Depersonifizierung im sechsten Vers (die zwei Fassaden) dem Gedicht einen weiteren befremdlichen Einfluss.

Beziehe Ich nun meine Analyseergebnisse auf die anfängliche Interpretationshypothese, komme ich zu dem Ergebnis das meine Vermutungen nur bedingt zutrafen. Im Vergleich zu anderen expressionistischen Lyrikern, behandelt auch Alfred Wolfenstein das Thema der Stadt, geht im Gedicht aber mehr auf die Enge und das abgeschottete Leben des einzelnen ein. Lediglich die erste Strophe behandelt die Situation der Stadt. Das eigentliche Thema ist wie der Titel des Gedichtes schon aussagt, der Stadtmensch. So beäugt Wolfenstein nicht nur die Stadt, sondern kritisiert vielmehr den Menschen als Schuldigen seines Schicksals. Die Einsamkeit resultiert aus dem dicken Panzer (V.12), den jeder mit sich herumträgt und damit versucht keine Emotionen seiner Mitmenschen an sich heran zu lassen (V.6 "die zwei Fassaden").

Weiterführende Links
Biographie: Alfred Wolfenstein
Der Expressionismus